Knapp 4000 Kilometer habe ich in den letzen 22 Tagen abgespult. Ein Viertel davon war Piste, von gut fahrbar bis brutal holprig mit losen Schotteranteilen. Dabei haben, ich und die Twin reichlich Staub geschluckt. Die Beanspruchung hat die Heckverstärkung meines Motorrades brechen lassen. Nichts dramatisches, aber die Befestigung meines Topcase wird durch die stärkeren Schwingungen des Kennzeichens stärker beansprucht. Daher befürchte ich, dass bei vielen weiteren Kilometer auf Pisten, die uns bevorstehen, die Topcasebefestigung brechen wird.
Unser Vermieter, Pablo, schickt mich zu einer Schlosserei am Stadtrand von El Calafate. Ich beziehe mich auf die Empfehlung Pablos und beginne mein Problem der technisch versierten Geschäftsfrau zu erklären. Ich habe den Eindruck, dass meine stümperhaften verbalen Erklärungen ihr imponieren. Sie versteht das technische Problem, bestätigt mir das Vorhandensein des Materials und leitet mich weiter an ihre Mitarbeiter Juan sowie Marco. Marco scheint mir eine Art Vorarbeiter. Er blickt schnell worum es geht. Die gebrochenen Alubleche werden als Schablone genutzt. Marco schneidet mit einer Blechschere die Kontur aus, Juan bohrt die notwendigen Löcher mit einer selbstschneidenden Blechschraube. Mit ein bisschen Nacharbeit passt das Bohrbild. Juan verschraubt die neuen Bleche mit Motorradrahmen und Kennzeichenhalter. Die beiden lassen sich zum Abschluss noch mit mir und der Baustelle ablichten. Ich erkenne schon ihren Stolz, mir geholfen zu haben. Das Foto verspreche ich ihnen an ihre Mailadresse zu senden.
Glück gehabt. Die Werkstatt macht nach dem Eingriff an mein Motorrad nicht Siesta, nein heute ist Freitag und offensichtlich früh Feierabend. Mit Verspätung, aber ich bin auf dem 70 Kilometer Weg zum Perito Moreno. Ich nähre mich der Andenkordillere. Die graubraunen Flächen werden grüner. Rechts der Asphaltstraße grast eine stattliche Schafherde und auf der Riesenweide links laufen die künftigen argentinischen Steaks herum. Wiedermals werde ich zum Anhalten aufgefordert. Mehrere senkrecht in Betonfundamenten verankerte Baumstämme kennzeichnen den Anfang des Nationalparks Los Glaciares. Man will den Tarif für ausländische Touristen von mir. Hundertdreißig argentinische Pesos, um die zwanzig Euro. Im Gegenzug bekomme ich eine Informacion general, eine Mülltüte in der ich meine Abfälle sammeln und wieder mitnehmen soll und das Eintrittsticket welches auf Verlangen den Rangern vorzuzeigen ist.
Das Asphaltband schlängelt sich kurvenreich an einem Arm des Lago Argentinos entlang. Geschwindigkeitsbeschränkt auf durchwegs vierzig, der vielen Touristen wegen. Ich halte auf den verbleibenden Kilometern häufig an, und versuche die Eindrücke fotografisch einzufangen. Beim ersten Anblick des größten Gletschers Südamerikas, kommt mir die zerklüftete Eisfläche wie die Seeoberfläche des Lago Argentino vor, nur vom Niveau her höher gelegen. Immer noch mehr als zehn Kilometer vom Perito entfernt empfinde ich seine Ausmaße nicht als atemberaubend. Erst als ich einen Mirrador anfahre und die Ausflugsboote, die die Touristen nahe an die Gletscherwand heranbringen, sehe, begreife ich die gigantischen Ausmaße der hier in den Lago endenden Gletscherzunge. Von einem Sammelparkplatz aus, an dem ich die Africa Twin stehen lassen muss, werde ich zum aufwändig präparierten Besichtigungsarenal befördert. Ich bin der einzige Fahrgast in dem Kleinbussprinter. Der Fahrer gibt mir einen Tipp, wie mich am besten zurechtfinde.
Ich habe vier verschiedene Wandermöglichkeiten, allesamt mit Gitterroststegen und Brüstung befestigt. Es gibt sogar einen Aufzug, um auch älteren und gehbehinderten Menschen dieses Naturschauspiel aus nächster Nähe erleben zu lassen. Schnell finde ich meinen Beobachtungspunkt, von dem aus ich lange Zeit die riesige Gletscherwand betrachte. Hier und da knackt es mal und kleine Eisstücke fallen in den Lago. Von meinem Aussichtspunkt kann ich das nördliche Ende des Moreno einsehen. Einige Touristen kommen fotografieren sich und den Gletscher, verweilen zehn, fünfzehn Minuten, sprechen französisch, englisch, spanisch. Ein deutschsprachiges junges Paar lässt der Effektfotographie freien Lauf. Im Panoramamodus möchte er sie zu Beginn der der Sequenz ablichten. Dann muss sie schnell einen Platzwechsel machen, so dass sie auch auf der letzten Sequenz zu sehen ist. Das unmittelbar kontrollierbare Foto wird diskutiert. Ein, zwei weitere Versuche folgen, bevor sie die Idee verwirft. Meine Kamera ist weiter auf die Eiswand ausgerichtet. Fast schon mechanisch drücke ich leicht den Auslöser, um die Abschaltautomatik außer Kraft zu setzen. Auf der Südseite hat es bereits zweimal tosend Gekracht, einem Donnerschlag aus nächster Entfernung ähnlich. Danach höre ich das bewundernde Staunen einer Menschenmenge. Ich schaue auf meine Handyuhr. Viertelnachfünf habe ich mir als mein Timeout für dieses Foto meines Lebens gesetzt. Ein spatzengroßer Vogel sitzt maximal zwei Meter links vor mir in einem Strauch und zwitschert was das Zeug hält. Mein Ultimatum ist überschritten. Enttäuscht nehme ich meine Kamera, richte sie Richtung Vogel, klicke leise. Wie ein Echo, nur infernalisch laut hallt es vom Perito Moreno Gletscher zurück. Er lässt einen Eisbrocken in den Lago fallen. Ich krieg leider nur die Tsunamiwelle aufs Bild, die sich halbkreisförmig von der Eintauchstelle her ausbreitet.