Es ist trocken, bewölkt und recht frisch bei meiner Abfahrt von der Hosteleria Tradicion Colca. Ich sitze bereits vor sieben Uhr auf dem Sitz meiner Africa Twin. Grund für den frühen Aufbruch sind die Condore, die am Mirador Cruz del Condor jeden Morgen aufs Neue, sich mit der durch die Sonnenstrahlen einsetzenden Thermik in die Luft schwingen, um Nahrung zu organisieren. Nach wenigen Kilometer endet die komfortabel zu fahrende Asphaltstraße. Die kommenden 30 Kilometer führen über eine streckenweise mit tiefen Schlaglöchern übersäten Naturstraße. Es herrscht bereits reger Verkehr. Zumindest die ausnahmslos weißen Kleinbusse haben das gleiche Ziel wie ich. Viele Tour Guides zeigen ihren Gruppen einige Einblicke in die zweittiefste Schlucht der Welt bevor sie zum Condor Mirador weiterfahren. Ich eile schnell möglichst durch zu meinem Tageshighlight.
Die in ihren farbenfrohen Trachten gekleideten Marktsenoras breiten noch ihre Souvenirwaren aus, als ich das weitläufige, mit vielleicht fünfzig Touristen bevölkerte, Areal des Miradors betrete. Ein aus dünnen Baumstämmen errichtetes Geländer sperrt den Zuschauerbereich von der Condor Schlucht ab. Tatsächlich findet mein Blick einen dieser Vogelriesen auf einem Felsen hockend dreißig, vierzig Meter vor mir. Er putzt sein Gefieder, dreht den Kopf mal links, mal rechts herum.
Die berliner Reisegruppe, die ich bereits gestern auf der Passhöhe getroffen hatte, war schon vor mir hier am Aussichtspunkt. Einer aus der Gruppe, Tomas, berichtet mir, dass der Anstandscondor, der einzige hier sei und er schon eine kurze Flugrunde hinter sich hat. Mangels ausreichender Thermik habe ich noch das Glück ihn zu erleben. Ich richte meinen Fotoapparat auf den Vogel und möchte seinen Sturz in den Canyon Abgrund einfangen. Mir kommt der Perito Moreno Gletscher in den Sinn, an dem ich ein abbrechendes Stück Eis beim Eintauchen in den Lago Argentinia knipsen wollte. Damals war es ein Vögelchen, dessen hämisches Gezwitscher meiner langen Geduld ein Ende machte und mich meinen Eisblock verpassen ließ, heute ist es die Ablenkung durch ein Gespräch mit einem Landsmann, welches der Condor ausnutzt zu Starten ohne auf meinen Chip zu kommen.
Die Sonne wärmt nicht nur die Colca Schlucht auf, mir tun die wärmenden Strahlen auch gut. Immer mehr Kleinbusse füllen die Parkplätze. Pesch gehabt, denke ich mir, da seid ihr wohl zu spät. Doch ich bin froh, dass ich unrecht habe. Wie aus dem nichts inspiziert einer der Condore die Zuschauerränge. Erhaben, lautlos, unantastbar schwebt er quasi in Augenhöhe an uns vorbei. Scheinbar verweilt er kurzzeitig, um sich einen Zuschauer besonders gut anzuschauen, bevor er seinen genussvollen Flug fortsetzt. Seine Kumpel tauchen, genau wie er aus den nicht einsehbaren Tiefen der Schlucht auf. Alle Kondore schweben auf unserer Höhe einige Runden, bevor sie von der aufsteigenden Wärme hoch in den Himmel getragen werden.
Ich schaue mir noch ein paar andere Punkte des Miradors an. An einer Stelle kann ich die im Tal fließende Colca erkennen. Es soll hier 1200 Meter tief hinuntergehen. Mit diesem einzigartigen Naturschauspiel im Bauch setze ich zusammen mit Theo die Fahrt fort. Doch der Mirador Cruz del Condor bleibt heute für mich der Höhepunkt. Wir drehen am Ende des Canyons, überwinden die Passhöhe von fast 5000 Meter ein zweites Mal und erreichen abends unser liebgewonnenes Hostal in Arequipa zum dritten und letzten Mal auf dieser Reise.